NIEMAND IST SICH SEINER SICHER

haus

Ein Auftragswerk von ORF, 3sat und LIVA für die Ars Electronica 1991 zum Thema "Out of Control". Live TV Kunst via Satellit direkt in den Haushalt und retour.

Live ausgestrahlt an drei aufeinanderfolgenden Tagen:

11.9.1991: 21h50 - 22h00 via 3sat; 12.9.1991: 23h45 - 1h45 via 3sat;

13.9.1991: 23h00 - 23h45 via 3sat

und via Kunststücke in FS2. Insgesamte Sendedauer: 175 Minuten.

Nachdem die oberösterreichische Militärkommandantur das Gelände der Ortskampfanlage am Truppenübungsplatz Obertreffling für das geplante Fernsehprojekt nicht zur Verfügung stellen konnte, wurde mit der Vöestbrücke (Autobahn A7) und dem darunter befindlichen 10.000m2 großen Areal eine brauchbare Aktionsfläche für das nunmehr modifizierte und um einige inhaltliche Aspekte erweiterte Projekt gefunden. Oben quert die Autobahn das Gebiet, darunter befindet sich eine Freizeitsportanlage für Stockschützen, daneben das Überschwemmungsgebiet, in dem sich Radfahrer, Hundebesitzer, Spaziergänger und Jogger tummeln. Ein öffentlicher Raum, der vieles in sich birgt und mehrere markante Ebenen beinhaltet. Ein Knotenpunkt zwischen Arbeit und Freizeit, Sport und Verkehr. Diese stellen in ihrer physischen Gegebenheit unsere dramaturgischen Anhaltspunkte dar.

Es folgt ein irrwitziger Behördenlauf, um die erforderlichen Genehmigungen zu erhalten. Allein die Zuständigkeiten bei der Autobahnbrücke mit ihren städtischen Versorgungssträngen reichen von der Bundesstraßenverwaltung, Landesbaudirektion Abt. Autobahnen, Landesregierung/Gebäudehilfsdienst, Abtl. Brückenbau, Autobahnmeisterei, Maschinenamt und Gartenbauamt der Stadt Linz, private Pächter, die Teile der Grünflächen landwirtschaftlich nutzen, bis zum Liegenschaftsamt der Stadt Linz und führen schlußendlich zur Hinterlegung einer Kaution in Millionenhöhe durch den Auftragsgeber.

Das infrastrukturell unerschlossene Hochwasserschutzgebiet und die Autobahnbrücke stellen höchste Anforderungen an Planung und Organisation sowie Technik und Knowhow. Um auf Sendung zu gehen, gilt es zuerst die Produktionsumgebung im Gelände zu schaffen.

Eine Stromzuleitung muß gelegt werden, Verteileranlagen zur Versorgung der Lichtinstallationen und Studiotechnik mit getrennten Kreisen von zwei etwa 500 Meter entfernten Transformatoren aus, und das alles wasser- und wetterfest. Errichtung einer Container-Anlage für das TV-Studio, Stauraum und Telefonshelter. Konstruktion und Ausstattung der Bühnenbauten im Gelände, wie Blue Boxes, Haus der Fernsehfamilie mit Vorgarten, Schneekanonen, Kokskörbe, Autosturzbühne, Ehrentribüne, Pontonanlegestellen für den als Festivalsservice geplanten Schiffsverkehr an beiden Donauufern.

Planung und Umsetzung des Lichtsystems, um 10.000 m2 bespielbare Fläche fernsehgerecht auszuleuchten. Errichtung der Lichttürme und -gerüste. Aufbau und Einrichtung von Mannschaftszelten für die rund um die Uhr im Einsatz befindlichen Mitarbeiter, Verpflegung und Unterbringung von bis zu 120 Arbeitskräften. Installierung eines Feldbüros samt Infrastruktur zur organisatorischen und finanztechnischen Unterstützung des Projekts in den letzten 2 verbleibenden Wochen vor Beginn der ersten Sendung. Präparierung und Ausführung der Spezialeffekte wie z.B. Baumsprengung mit Panzerrohr, Hundesprengung, Weltuntergangsszenario zum Finale, Autoabsturz frontal aus 6 m Höhe ...

Wie schon erwähnt, wurde bei der Erarbeitung des TV-Projekts zum Thema "Out of Control" im Spätherbst 1990 die Zusammenarbeit mit dem Militär erwogen. Dieses Unternehmen betreibt wie jedes andere Imagekampagnen und kann deshalb auch als Sponsor durch Sachleistungen im Rahmen eines derartigen Vorhabens ein interessanter Partner sein. Die Schiene zum Militär ist durch die Vorarbeit am Projekt "Studio Obertreffling" gelegt, und in Folge unterstützt uns das Bundesheer beim Projekt "Niemand ist sich seiner sicher". Die Workload, die sich durch die notwendige Darstellung von Spezialeffekten und der Anforderung von Sonderanfertigungen im Bühnenbau ergibt, wird im Rahmen der Pionierausbildung im Auftrag durch die heerespolitische Abteilung des Verteidigungsministeriums unter dem Kommando der vierten Panzergrenadierbrigade ausgeführt.

Zitat Brigadier Trautenberg: "Dieses Projekt ist endlich eine Chance, bei dem kritischen Kunst- und Kulturpublikum einmal ordentlich punkten zu können."


Niemand ist sich seiner sicher

Ein Live-Fernsehstück in mehreren gleichzeitig stattfindenden Handlungsebenen. Es durchleuchtet psychisch und materiell das Phänomen kontrollierten Lebens. Die Überlegungen konzentrieren sich auf die Bedeutung des Themas in bezug auf die menschliche Existenz und den damit verbundenen Alltag.

Ein hohes Maß an Lebensqualität bedingt ein hohes Maß an Kontrolle über mögliche Störfaktoren. Heute sind wir konfrontiert mit einer hochentwickelten Kultur der Sicherheitssysteme, die inzwischen eine starke Eigendynamik entwickelt haben. Dem Unbedarften flößen sie schon wieder Angst und Unsicherheit ein. Wir wollen wissen, wie Menschen ihr Leben tagtäglich unter Kontrolle haben und wie sie mit ihrer Existenz umgehen. Das damit verknüpfte Aufrechterhalten von Wertvorstellungen (was schützt man und wovor) ergibt nur scheinbar ein Geflecht zur Stabilisierung der Existenz. Letztendlich zeigen sich darin aber paranoide Bruchstellen, so, daß sich keiner mehr seiner sicher sein kann. Der Hang zur Kontrolle, der für viele einen primären Überlebensfaktor darstellt, erweist sich als Falle. Die Vernunft lehrt, daß wir nicht wissen können, was in der nächsten Sekunde geschieht.

Orte des Geschehens sind auf, unter und neben der Vöestbrücke beim Autobahnknoten Linz/Urfahr am Donauufer. Oben überquert die Autobahn das Gebiet. Darunter befindet sich eine Freizeitsportanlage für Stockschützen. Auch die Wege für Spaziergänger, Radfahrer, Läufer und Hundebesitzer führen hier durch und weiter entlang des Donauufers in das Erholungsgebiet. Ein öffentlicher Raum, der vieles in sich birgt und mehrere für uns markante Ebenen beinhaltet. Diese stellen in ihrer physischen Gegebenheit unsere dramaturgischen Anhaltspunkte dar.

Unterschiedliche autonome Handlungsebenen funktionieren gleichzeitig, werden miteinander verknüpft und stehen unvermeidlich zueinander in Beziehung.

OBEN die Autobahn, das geordnete und geregelte System des Straßenverkehrs. Sie ist dramaturgisches Sinnbild der rationalen Ebene Ñ die Kopfebene sozusagen. Was bewegt den Verkehr? Ein populäres, kontroversielles Thema, bei dem individuelle Freiheit und Begrenzung starker Kontrolle und Selbstkontrolle unterliegen. Genau das versuchen wir künstlerisch aufzuarbeiten. Hier Bewegung und Fortbewegung der Menschen, da die Hängebrücke. Und weil Autos nicht fliegen können, funktioniert die Brücke wie eine Krücke.

UNTER der Brücke ­ die Triebebene. Ein offener, aber überdachter Raum, gleich einer Halle. Die Asphaltstockschützenanlage ist Aktionsfläche, die eiserne Brückenkonstruktion mit ihren fahrenden Arbeitsbühnen Schnürboden. Dieser Raum ist eine Zwischenstation für Freizeittreibende und Vertriebene. Unterwelt.

NEBEN der Brücke liegen Auwiesen, ein Überschwemmungsgebiet, der Wasserdamm und der Radfahrweg. Eine zivilisatorische Mischform verschiedener Frei-Zeit-Räume. Die grüne Wiese, der Wuchs, die Lethargie. Eine Bilderbuchidylle. Mitten drin ein Kleinfamilienhaus, die heile Welt in der Heilhamer Au.

Dort ist unsere Fernsehfamilie einquartiert ­ ein Wohnzimmer, bevölkert mit Vertretern aller Generationen und Geschlechter. Ein gemütlicher Abend mit Plauderei, Essen, Trinken, Fernsehen. Eine reflexive Schleife über unser laufendes Programm, für unsere Zuseher telefonisch erreichbar. Manipulierte Informationen auf der Mattscheibe schüren Konflikte.

Außerhalb gleichzeitig eine Debatte. Geladene Gäste, von den Maximen ihres Lebens überzeugt, erläutern ihre eigenen Überlebensstrategien. Abgeklärt, saturiert und vom Durchblick gezeichnet. Menschen, die wissen, wie sie ihr Leben unter Kontrolle halten. Es passiert eine suggestive Zerlegung ihrer Sichtweisen; nicht um diese Menschen zu deklassieren, sondern um das Funktionieren solcher selbstauferlegter oder angelernter Kontrollmechanismen im Zuge der Verunsicherung sichtbar zu machen.

Eine Gruppe sozialer Desperados hat sich eingenistet. Wir versorgen sie mit Alkohol, stellen Kühlschrank, Feuerholz und Müllcontainer bereit. Auch sie sind telefonisch erreichbar ­ eine soziale Plastik.

Es ist, als würde mit der Zeit eine unabhängige Kraft von außen her umgestaltend auf die Gesamtsituation einwirken. Es beginnt im Kleinen und nimmt verheerendes Ausmaß an. In zugespitzter Form ist dies die stoffliche Veranschaulichung eines permanenten Veränderungsprozesses. Nichts ist in Ruhe. Die Uhr ist ein Wassersack. Dekonstruktion und Neuschaffung.

Der Zuseher kann Vorgänge mittels seiner Telefontastatur auslösen, ohne daß er sich dazu äußern muß ­ auf Knopfdruck. Der Zuseher übernimmt Verantwortung. Das TV-Bild des realen Aktionsraums wird dem virtuellen Raum des Videospiels gegenüber- bzw. gleichgesetzt.

Ein System wird geschaffen und sich selbst überlassen. Jeder ist potentieller Täter. Zwei unterschiedliche Telefonnummern können angewählt werden. Ein einfaches Mehrheitsverhältnis verhindert dadurch einen folgenschweren Vorgang oder löst ihn aus.


Highlight der Sendung: Die Hundesprengung

Um unseren Zusehern ein live-relevantes TV-Erlebnis zu bieten, wird dem Publikum zu Hause vor den Schirmen die Entscheidung über Leben und Tod eines Spitzmischlings überlassen. Von einem vertrauten ORF-Fernsehmoderator über die genaueren Modalitäten informiert, kann der Seher durch Wahl einer bestimmten Telefonnummer darüber entscheiden, ob der Hund weiterleben darf oder während der Sendung gesprengt werden soll. Live zugeschaltete aktuelle Zwischenstände ermutigen das Publikum, Partei zu ergreifen, während unser Versuchstier, mit Dynamitstangen beklebt und verkabelt, seines Schicksals harrt. Nach Ablauf des Ultimatums ist überraschenderweise die überwiegende Mehrheit der Anrufer dafür, daß der Hund getötet werden soll. Der Hund wird gesprengt. Die Zündung ausgelöst. Er explodiert am Bildschirm. Dem freundlichen Moderator bleiben wenige Worte. Sein Kommentar: "Meine Damen und Herren, die Entscheidung ist gefallen. Sie haben dafür gestimmt, daß dieser Hund getötet, also gesprengt wurde. Es war Ihre Entscheidung. Sie müssen das in Ihrem Gewissen für sich selbst verantworten."

Tags darauf vergattert der von Anrufen geplagte ORF seinen Moderator dazu, der besorgten Öffentlichkeit den Hund in "Oberösterreich Heute" lebendig zu präsentieren und die Bevölkerung darüber aufzuklären, daß das natürlich nur ein videotechnischer Trick war. Der Hund ist Studiogast in der regionalen Nachrichtensendung, macht zwar einen etwas verstörten Eindruck, ist aber am Leben. ­ Daß natürlich auch diese Livesendung des Landesstudios Oberösterreich genauso einen Tag vor der Sprengung aufgezeichnet hätte werden können, ist keinem aufgefallen.

Für einigen Gesprächsstoff sorgt auch die in einem Fenster der Bildoberfläche ausgestrahlte detailgetreue Darstellung einer Geschlechtsoperation ­ Ausschnitte aus einem Film von Bernhard Frankfurter ­, bei der anhand einer Umwandlung von Mann zu Frau tiefe Einblicke in die Verwandlungsfähigkeit des Geschlechtes und in die Leistungen der modernen Chirurgie gewährt werden. Parallel dazu bekennen sich am Bildschirm jugendliche Autonarren ungehemmt zur Raserei mit ihren frisierten mobilen Untersätzen.

Die Realität holt die Fiktion ein: Über die offene Telefonleitung erreicht die "Fernsehfamilie" der Anruf eines Zusehers, der durch das Gezeigte angeregt wird, sich seinen Penis zu amputieren. Durch Zufall nimmt Thomas Hartwig, im zivilen Leben Diplompsychologe und in der "Fernsehfamilie" rein privat zu Gast, den heiklen Anruf entgegen. Er ist bis heute davon überzeugt, daß es dem Anrufer absolut ernst war: Schon lange habe er vor, sich zu kastrieren, die Fernsehbilder würden ihn ermutigen, nun endlich zur Tat zu schreiten. Bis weit über die Sendezeit hinaus wird Hartwig auf ihn einreden müssen, um ihn von seinerSelbstzerstümmelung abzuhalten.

Als sich schließlich das Gartenbauamt der Stadt Linz am Tag nach der letzten Sendung in die unangenehme Lage versetzt sieht, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu erklären, wie es jemals zulassen, ja genehmigen konnte, daß eine prächtige, über sieben Meter hohe Weißpappel mit einem Panzerabwehrrohr des österreichischen Bundesheeres einfach in die Luft gejagt wird, lassen es sich besorgte und neugierige Linzer & Linzerinnen nicht nehmen, sich am folgenden Wochenende vor Ort selbst ein Bild zu machen, während Mitarbeiter von STWST-TV gemeinsam mit Pionieren des österreichischen Bundesheeres mit dem Abbau der Bauten & Kulissen und der "Entsorgung" der Baumreste beschäftigt sind.

Als sich schließlich das Gartenbauamt der Stadt Linz am Tag nach der letzten Sendung in die unangenehme Lage versetzt sieht, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu erklären, wie es jemals zulassen, ja genehmigen konnte, daß eine prächtige, über sieben Meter hohe Weißpappel mit einem Panzerabwehrrohr des österreichischen Bundesheeres einfach in die Luft gejagt wird, lassen es sich besorgte und neugierige Linzer & Linzerinnen nicht nehmen, sich am folgenden Wochenende vor Ort selbst ein Bild zu machen, während Mitarbeiter von STWST-TV gemeinsam mit Pionieren des österreichischen Bundesheeres mit dem Abbau der Bauten & Kulissen und der "Entsorgung" der Baumreste beschäftigt sind.


Konzept: Reinhard Jud, Thomas Lehner, Wolfgang Lehner, Georg Ritter


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